Geschichte im Essener Norden

 

Die „Essener Nachrichten" vom 28. März 1945

 

Diese Tageszeitung habe ich von einer Altenessenerin bekommen, die während der Kriegsjahre hier gewohnt hat. Die Zeitung bestand nur aus einem Blatt, mehr Papier gab es wohl nicht. Sie ist im Reismann-Grone-Verlag erschienen und kostete 10 Reichspfennige. Auf der Vorderseite stand der Aufruf zur totalen Räumung von Essen. Auf der Rückseite wurde über Erfolge der Wehrmacht und Verluste der Alliierten berichtet: „Empfindliche Verluste der Sowjets beim Kampf um Breslau - die japanische Flotte hat fünf US-Kriegsschiffe versenkt," und ähnliche Kriegsberichte. Nebenbei wird auch der 100. Geburtstag von Conrad Wilhelm Röntgen erwähnt.

10. Tage später, am 6. April 1945, wurde Essen von der US-Armee besetzt!


Am 19. März 1945 hatte Hitler mit dem „Nero - Befehl" die totale Zerstörung aller Anlagen im Reichsgebiet angeordnet. Hier in Essen gab es aber nichts mehr zu zerstören! Die Stadt war schon zu 90 % zerbombt. Am 27. März 1945 hatte der stellvertretende Gauleiter Schleßmann für den Gau Essen, die totale Räumung der Stadt angeordnet. Der Feind sollte mit brutaler Härte herausgehauen werden. In dem Räumungsbefehl wurde genau festgelegt, wer Essen verlassen musste, was man mitnehmen durfte. Als Transportmittel waren Pferdefuhrwerke, Bollerwagen und Fahrräder vorgesehen. Wer das nicht hatte, konnte nur noch wenige Kleidungsstücke in Taschen mitnehmen.

Die Menschen sollten sich einem Treck anschließen. Unterwegs konnte eine Verpflegung durch die National – sozialistische – Volkswohlfahrt (NSV) nicht garantiert werden, deshalb sollte für mindestens sechs Tage eine Kaltverpflegung mitgenommen werden. Für Pferde war ein Futtervorrat von 20 Tagen vorgeschrieben. Alles war bis ins Kleinste geregelt. Was aber völlig fehlte: wohin sollten die Menschen noch gehen? – dazu gab es keinen Hinweis! Der Ruhrkessel war bereits geschlossen. Das zeigt auch die unsinnige, realitätsfremde Anordnung dieser totalen Räumung. Von den Essenern, die hier noch ausgehalten haben, ist kaum jemand diesem Befehl gefolgt.

Schleßmann hatte noch vor der Besetzung Essens die Stadt mit seiner Freundin verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Er wurde aber von den Amerikanern erkannt und am 15. April 1945 verhaftet und in das Internierungslager Staumühle / Hövelhof gebracht. In diesem Lager wurde auch Alfried Krupp von Bohlen und Halbach gefangen gehalten.

Frau Witzenrath aus Altenessen hat während des ganzen Krieges hier in Essen gewohnt. Sie hat mir über diese Zeit viel erzählt:

„Wir haben 1945 in Holsterhausen an der Hausackerstraße gewohnt. Das Haus lag etwas im Tal. Heute kann man nichts mehr erkennen, es ist beim Bau der Brücke über die Autobahn zugeschüttet worden. Ich ging auf die Kepplerschule. Nach der Volksschulzeit habe ich eine Lehre als Schneiderin in Rüttenscheid begonnen. Die Bedingungen waren schon sehr schwierig: Es gab kaum noch Stoffe und alles andere, was man zum Nähen brauchte. Vielfach sind alte Kleidungsstücke aufgetrennt und mit anderen Teilen zu neuen Sachen zusammengenäht worden. Wir haben auch alte Zuckersäcke aufgeribbelt, und von der Wolle neue Pullover gestrickt. Viele Häuser waren durch die Bombenangriffe bereits zerstört, so dass die Schneiderwerkstatt auch gleichzeitig der Wohnraum war. Es gab keine andere Möglichkeit mehr.

1944 – 45 wurde Holsterhausen sehr stark bombardiert. Der schwerste Angriff fand am 25. Oktober 1944 statt. Viele Häuser, die Kepplerschule und die Stephanuskirche wurden getroffen. Die Luftminen waren besonders gefährlich. Durch den hohen Explosionsdruck dieser Minen wurden die Lungen der Menschen stark geschädigt, es gab viele Tote. Das Haus, in dem wir wohnten, wurde auch getroffen. Wir mussten Holsterhausen verlassen und fanden Unterkunft bei einer Tante auf der Vogelheimer Straße in Altenessen.

Die Tante hatte einen „Brotladen". Sie backte nicht selber, sondern bekam das Brot von einer Bäckerei angeliefert. Alles war streng geregelt: Brot gab es nur auf Brotmarken, die von den Lebensmittelkarten abgeschnitten wurden. Abends wurden diese „Schnibbel" auf einen Papierbogen aufgeklebt. Diesen hatte man beim Ernährungsamt als Nachweis abzuliefern. Mit den zunehmenden Bombenangriffen wurde in Altenessen kein Brot mehr gebacken, die Bäckerei war zerbombt. Die Leute mussten nach Karnap laufen, um dort ihre „Brot-Zuteilung" abzuholen. Vor dem kleinen Laden standen lange Schlangen, es wurden immer nur 10 Leute herein gelassen.

Nach dem letzten Großangriff auf Essen am 11. März 1945 war Essen weitgehend zerstört. Die Versorgung war zusammengebrochen. Wasser – Strom – Lebensmittel gab es nur noch zeitweise. Viele Male am Tag und in der Nacht gab es Alarm – wenn der Voralarm gegeben wurde, sind wir ganz schnell zum Luftschutzbunker im Grünbruch gelaufen. Dort haben wir uns etwas sicher gefühlt. Die Bedingungen im Bunker waren unzumutbar. Er war völlig überfüllt, die sanitären Anlagen waren äußerst mangelhaft. Es stank fürchterlich! Wir haben die Ostertage im Bunker verbracht. Vom beginnenden Frühling haben wir kaum etwas bemerkt.

Am 23. März hatten die Alliierten Truppen den Rhein überschritten, mit den von Süden heranrückenden Einheiten wurde das Ruhrgebiet großräumig eingekreist. Der „Ruhrkessel" war damit geschlossen. Als am 28. März die Anordnung zur totalen Räumung kam, sind wir hier geblieben. Wo sollten wir auch hin? Das Ruhrgebiet war umzingelt, wir hatten auch in der näheren ländlichen Umgebung keine Verwandten. Wir hätten auch nichts mitnehmen können – nur ein paar Taschen mit den allernotwendigsten Sachen. Als wir am Morgen des 6. April, einem Freitag, aus dem Bunker kamen, waren die „Amis" da. Sie hatten in der Nacht den Rhein-Herne-Kanal überquert und Altenessen besetzt. Ich habe da zum ersten Mal einen schwarzen Menschen gesehen. Die Soldaten waren aber recht freundlich zu den Kindern und Jugendlichen und verteilten auch Schokolade. Das hatten wir nicht erwartet.

Als wir in unsere Wohnung kamen, fanden wir ein großes Durcheinander vor. Alles war durchgewühlt und lag auf dem Boden herum. Die Amerikaner hatten wahrscheinlich auch nach versteckten deutschen Soldaten gesucht. Sie haben viele Häuser besetzt und als Quartier benutzt. Am 11. April ist die Stadt Essen den Alliierten offiziell übergeben worden.

Wir waren erleichtert: Für uns war der Krieg zu Ende – Kein Alarm und kein Bunker mehr! Die folgenden Wochen waren aber sehr schwer, die Versorgung kam nur ganz langsam im Gang. Wir mussten uns selber helfen: an den Eisenbahnen haben wir von den Kohlenzügen versucht, etwas Kohle zu „klauen", was oft misslang. Alles wurde stark bewacht. Ich stzte meine Lehre bei der Schneiderin in Rüttenscheid fort. Den langen Weg von der Vogelheimer bis zur Flora musste ich laufen. Es fuhr ja keine Straßenbahn – Bombentrichter und Schuttmassen versperrten oft den Weg. Ich habe meine Lehrzeit trotzdem irgendwie zu Ende gebracht. Das Leben ging weiter."


Der Bunker im Grünbruch / Wildpferdehut in Altenessen war viele Jahre ein hässlicher, grauer Klotz. Er wurde ganz entkernt und zu Wohnungen umgebaut. Nichts erinnert mehr daran, dass hier Menschen auf engstem Raum die Bombenangriffe überstanden und das Kriegsende erlebten.


20. August 2015 Günter Napierala, Altenessener Geschichtskreis